Hobby als Beruf: Traumjob: Zocken für die Fußball-Bundesliga

Timo zockt jeden Tag Videospiele. Ein Bundesliga-Verein bezahlt ihn dafür. Warum stellen immer mehr Fußballklubs professionelle Gamer ein?
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Timo zockt jeden Tag Videospiele. Ein Bundesliga-Verein bezahlt ihn dafür. Warum stellen immer mehr Fußballklubs professionelle Gamer ein? Und wie lebt es sich als Vollzeit-E-Sportler? Ein Star der Szene erzählt von seinem Alltag.

Timo Siep sitzt vorgebeugt auf einem Sessel auf der Bühne, nur seine Daumen bewegen sich. Sein Blick ist auf den Bildschirm vor ihm geheftet. Neben ihm sitzt der Gegner. Beide halten kleine Geräte in den Händen, die Controller. Sie drücken Tasten, ihr Puls rast, kleine Fußballer schießen auf den Monitoren Tore – wertvolle Tore. Es geht um 25 000 Euro Preisgeld und den Meistertitel in der Virtuellen Fußball-Bundesliga. Der Sportsender Sport1 überträgt das Match aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund ins Internet.

Die jungen Männer spielen Fifa. Timo möchte unbedingt gewinnen – für sich selbst, seine Fans und für seinen Arbeitgeber, den Fußballverein VfL Wolfsburg. Der zahlt dem 20-jährigen Kölner jeden Monat einige Tausend Euro, damit er täglich trainieren kann.

Wie Wolfsburg haben in den vergangenen zwei Jahren immer mehr Fußballklubs Profi-Gamer unter Vertrag genommen: Schalke, Stuttgart, Leipzig, Bochum, Nürnberg, Bayer Leverkusen, Hertha, Köln. Wobei Hertha schon früher einen Test hatte. Sie alle wollen auf der Trend-Welle reiten, den Moment nicht verpassen, wenn aus dem Nischenphänomen etwas Größeres wird. Und natürlich wollen sie im digitalen Topsport Geld verdienen mit Sponsoren und Fans. Für ihre Marke möchten die Klubs auch Fans gewinnen, die lieber im Internet daddeln, als zu bolzen oder Bundesliga auf dem grünen Rasen zu gucken.

Millionen schauen weltweit beim E-Sport zu

Rund um den Globus verfolgen Millionen Menschen Turniere von solchen E-Sportlern wie Timo im Netz oder in Stadien – insgesamt etwa wohl so viele wie beim Radsport oder Eishockey. Tendenz steigend. Gespielt werden außer Fifa auch League of Legends, Counter-Strike, Dota 2 und vieles mehr. Auch die weltweiten Umsätze mit Werbung, Sponsoring, Turniertickets, Medienrechten und Fanartikeln der E-Sport-Branche wachsen: Von etwa 325 Millionen Dollar (rund 280 Millionen Euro) 2015 auf fast 655 Millionen Dollar 2017, wie das internationale Marktforschungsinstitut Newzoo schätzt. Die Milliarde sei in Sicht. Große Firmen wie Red Bull, Coca-Cola, Sony und Microsoft mischen mit.

Vor dem Hintergrund dieses Booms begeistert das Modewort „digital“ auch manche Manager von Bundesligavereinen. Sie wollen „digitaler werden“. Bei Wolfsburg kümmert sich Christopher Schielke um das Thema. Sein Titel: Verantwortlicher Digitale Strategie & E-Sport. „Es ist heute schwierig, junge Leute ausschließlich über den klassischen Sport zu erreichen“, sagt er. „Wir hoffen, dass E-Sport langfristig unser Kerngeschäft des Fußballs unterstützen wird.“

Wolfsburg bezahlt neben Timo noch zwei Gaming-Profis – sowie Manager und Betreuer. Außerdem fördert der Verein drei Nachwuchsspieler, die er in Casting-Turnieren ausgewählt hat. In einer sogenannten Gaming-Akademie neben dem Stadion sollen sie geschult werden. Schalke 04 hat ebenfalls eine Vorreiterrolle. Andere Klubs investieren weniger: Sie lassen zum Beispiel Studenten für kleines Geld in ihren Trikots zocken. Hertha BSC bildet vorerst nur Jugendliche zu Profis aus. Andere – die Bayern etwa – sind skeptisch.

Training und Spiele live im Internet

Timo Siep muss jede Woche mehrere Stunden Training und seine Online-Wettkämpfe live ins Internet übertragen. So steht es in seinem Vertrag. Weil zunehmend mehr junge Menschen den E-Athleten zuschauen, lässt sich dabei mit Werbung Geld verdienen.

Der 20-Jährige filmt sich im VfL-Trikot und mit Energydrinks von Sponsoren. Er demonstriert, wie er im Fifa-Spiel den Ball hin und her schießt. Gleichzeitig unterhält er sich mit Fans im Netz über ein Mikrofon. Diese können ihm in einem Chat schreiben. „Wie werde ich E-Sportler?“, fragt ein Zuschauer. „Einfach viel üben und Turniere gewinnen.“ Timo hustet. „Bist du immer noch krank?“ – „Ja, Mann. Gefühlt seit zehn Jahren.“ Timo spielt trotzdem. „Ich müsste schon mein Bein verlieren, dass ich nicht Fifa spielen würde.“ Als Junge wollte Timo Profi-Kicker werden. Aber diesen Traum hat er aufgegeben, nachdem er sich beim Bolzen auf dem Rasen den Arm gebrochen hatte. Heute findet er: „Ich habe den zweitbesten Job der Welt – besser wäre nur echter Fußballer sein.“

Pro Jahr muss Timo rund 100 YouTube-Videos drehen. Oft filmt er sich, wie er aus seinem Jugendzimmer gegen andere Profis spielt. Oder er steht im Trainingslager mit VfL-Kickern im US-Staat Florida auf einem Surfbrett vor der Kamera. Nach etwas mehr als einem Jahr folgen ihm über 60 000 Leute auf YouTube – doppelt so viele, wie im VfL-Stadion Platz finden. Damit liegt er aber noch weit hinter vielen beliebten Social-Media-Influencern, die Millionen Fans besitzen.

Das Gaming-Fieber packte Timo bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Von seinen Eltern hatte er sich danach sein erstes Fifa-Spiel gewünscht. „Manchmal habe ich so viel gespielt, dass meine Eltern die Playstation versteckten“, sagt Timo. Dann nahm ihn ein Freund mit zu einem kleinen Turnier. Er gewann den Hauptpreis – eine Spielekonsole.

Im Gymnasium zockte Timo jedes Wochenende Online-Turniere, bei denen der Sieger 100 Euro kassierte. „Andere gehen halt kellnern“, sagt er. „Aber den Eltern habe ich nichts gesagt.“ Mit 17 wurde er zum ersten Mal deutscher Meister, brachte einen silbernen Pokal und 800 Euro nach Hause. „Papa war stolz und hat sofort Fotos in den Familienchat geschickt“, erinnert sich Timo.

Kurz nach seinem 18. Geburtstag unterschrieb er das Angebot der Agentur Stark eSports. Sie betreut außer ihm auch mehrere E-Athleten anderer Bundesligisten und entwickelt mit Klubs E-Sport-Strategien. Timo holte nochmals den Meistertitel – und damit schon 2000 Euro. Seine Agentur vermittelte ihn an den VfL. Sogar seine Schule konnte Timo überzeugen, dass er statt des Mathe-Abis ein großes Turnier spielen und die Klausur nachholen durfte.

Preisgelder, Pokale und ein Monatsgehalt

Inzwischen hat der 20-Jährige, wie er erzählt, mehr als 50.000 Euro Preisgeld gewonnen. Dazu kommt sein Monatsgehalt vom VfL. Er leistet sich Markenklamotten, ein Auto, Strandurlaube. „Ich lade auch mal meine Eltern zum Essen ein“, sagt Timo. „Und ein bequemer Gamerstuhl und Bildschirme, die ich gewonnen habe, stehen bei Papa im Büro.“ Seine Turniere verfolgen die Eltern über den Livestream von zu Hause. Timo möchte nicht, dass sie mitkommen.

„Ich kann’s immer noch nicht richtig glauben“, sagt Timo. Jeden Tag schreiben ihm 50 Leute, schicken Fotos oder Herzchen-Emojis. Timo antwortet kurz. Etwa mit „Danke für die Worte. Schönen Tag noch.“ Er sagt: „Ich weiß, welche Bedeutung das für sie hat, weil die denken halt, ich bin der krasseste Typ.“ Auf Kölns Straßen fragen ihn Fans manchmal nach Selfies. Doch gerade wegen dieser Aufmerksamkeit sei es für ihn schwer, eine Freundin zu finden. „Frauen sagen immer, du bist Fame (englisch für Berühmtheit) und deswegen muss ich nett sein“, sagt er. „Aber ich will doch eigentlich Leute kennenlernen, die mich mögen – mich als Timo, nicht als TimoX.“ TimoX ist sein Gamername.

Vor jedem Turnier geht der Fifa-Spieler zum Friseur, damit seine Undercut-Frisur sitzt. Bei der Virtuellen Bundesliga in Dortmund fotografiert ihn sein Manager von der Agentur, die der Fußballklub bezahlt. Der Manager bastelt auf dem Handy eine Collage, die Timo auf Instagram und Twitter hochlädt. Am Mittag würde Timo sich gerne in die Sonne legen. Aber er muss sich vor ein Auto des Vereinssponsors stellen und die VfL-Fans in einer Video-Nachricht grüßen.

Dann wollen einige Fans Selfies und Autogramme. Timo lächelt geduldig, etwa für den 14 Jahre alten Marc. Marc zockt jeden Tag nach der Schule mit Klassenkameraden das gleiche Fifa-Spiel wie der sechs Jahre ältere Timo. Marc meint: „E-Sportler sind viel netter und nicht so arrogant wie echte Fußballer.“ Der Jugendliche ist mit seinem Vater gekommen. Dieser möchte herausfinden, warum sein Sohn das virtuelle Kicken so toll findet. Er sagt: „Solange seine Schulnoten gut sind, ist das schon okay.“

Ein Abschotten gegen die Szene wird auch immer schwerer: Sportmanagement-Professor Sascha L. Schmidt von der Otto Beisheim School of Management in Düsseldorf geht davon aus, dass jeder zehnte Deutsche mindestens einmal pro Woche einem E-Sportler zuschaut, dessen Instagram-Fotos liked, Tweets kommentiert oder als Spieler in der Welt des E-Sports unterwegs ist. In Südkorea und den USA sei schon jeder Dritte ein E-Sport-Fan oder ein virtueller Sportler beziehungsweise eine Sportlerin.

Ist E-Sport richtiger Sport?

Obwohl einige Klubs Fakten geschaffen haben, streiten sich andere Mächtige der Branche noch, ob Bundesligisten überhaupt Zocker anstellen sollen. Der Deutsche Fußball-Bund DFB lehnte E-Sport lange ab. Im vergangenen März sagte Präsident Reinhard Grindel im Deutschen Fußballmuseum: „Fußball gehört auf den grünen Rasen. Als größter Sportfachverband der Welt müssen wir darauf achten, dass E-Sports nicht den normalen Sport ersetzt.“

Einen Monat später teilte der DFB mit, dass er nur Gewaltspiele ganz zurückweise. „Wenn dagegen fußballbezogene Spiele als Ergänzung zum Sport im Verein wirken und über diesen Weg vielleicht sogar der eine oder andere in den Verein kommt, findet das unsere Unterstützung“, ließ sich Grindel in einer Pressemitteilung zitieren. In Spanien und den Niederlanden haben Fußballdachverbände bereits eigene E-Sport-Ligen gegründet. Hierzulande konzentrieren sich Vereine wie Wolfsburg und Leipzig im Sinne des DFB auf virtuelle Fußballer. Schalke hingegen beschäftigt neben Fifa-Spielern und Gamern einer anderen Fußball-Simulation auch ein Team des Fantasiespiels League of Legends. Dort ist mehr Geld im Spiel als bei Fifa.

Bei League of Legends gab es schon Preisgelder im Millionenwert, bei Fifa liegt man im Bereich mehrerer Hunderttausend Dollar. Schalkes E-Sport-Chef Tim Reichert sagt: „Uns ist egal, ob unsere Fans Fußball oder nur E-Sport mögen – wir schätzen sie alle gleich.“ Das Geld für Fanartikel nimmt der Klub aus Gelsenkirchen von beiden Gruppen gerne. Schalke hat für die fünf eigenen League-of-Legends-Spieler extra ein Haus in Berlin, in dem sie mit zwei Trainern und einem Koch leben. Um ihre Konzentration zu verbessern, soll das Essen gesund sein. Sechs Stunden pro Tag üben die Spieler und analysieren anschließend ihre Leistung. Um ihre Konzentration zu steigern und weil sie lange sitzen, müssen sie jede Woche fünf Stunden ins Fitnesscenter. Viele E-Sportler leiden an Rückenschmerzen.

Abgesehen von guter Ernährung und Fitness wissen Sportwissenschaftler aber noch nicht genau, wie man mit E-Sportlern am besten für Hochleistungen trainiert, sagt Professor Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln. Er testet zurzeit mit Gamern des 1. FC Köln Finger- und Konzentrationsübungen sowie Nackentraining. Er bilanziert: „Die Jungs zocken besser, wenn sie nach zwei, drei Stunden Pause machen, aber vielen ist das noch nicht bewusst.“

Tagesablauf: Schlafen, Training, Social Media

Die Fifa-Profis der Bundesligisten üben oft ohne Trainer. Von zu Hause spielen sie online gegeneinander. Timo schläft meist bis 10 Uhr aus, spielt zwei, drei Stunden Fifa am Morgen und macht am Nachmittag Videos für die Sozialen Netzwerke. Lust dazu hat er fast immer: „Aber nach einer doofen Niederlage muss ich mich schon zwingen“, sagt er.

Im Sommer kommt regelmäßig eine neue Fifa-Version heraus. Und er trainiert anfangs sogar fünf, sechs Stunden pro Tag, um seine Spielzüge anzupassen. Am Abend zockt er ab und zu ein Online-Turnier. Oder er entspannt mit Freunden, geht in einen Klub oder eine Shisha-Bar. Am Wochenende muss er zudem 40 Online-Spiele absolvieren, um sich für Turniere zu qualifizieren. Manchmal tut er auch etwas für seine Muskeln im Fitnesscenter.

Für diesen Herbst besitzt Timo einen Plan: Er möchte Fifa nur noch Teilzeit spielen – und daneben studieren, wahrscheinlich Sport-Management. „Ich will später ja nicht auf der Straße stehen.“ Professionell zocken möchte er weiter, bis er 30 ist. Und dann ins E-Sport-Management wechseln – oder sonst was tun.

Bei der Virtuellen Bundesliga in Dortmund tritt Timo in seinem entscheidenden Spiel gegen Cihan Yasarlar vom RB Leipzig an. 2:0 steht es nach der ersten Halbzeit. Timo lächelt, streckt die Faust in Gewinnerpose hoch. Dann spielt Cihan aggressiver, holt auf. Und gewinnt. Timo sinkt schlaff in seinem Stuhl zusammen. „Cihan Yasarlar steht im Viertelfinale der Tagheuer Virtuellen Bundesliga. Und Timo Siep ist ausgeschieden“, sagt ein Kommentator.

Eine Stunde später sendet Timo eine Instagram-Story an die Fans: Trauriges Gesicht, Kapuze des VfL-Pullis über dem Kopf. „#DankeFürSupport (Herz-Emoji).“ Sein Manager sagt: „Heute darf er traurig sein. Aber morgen muss er das Spiel analysieren und daraus lernen.“

(dpa)