Diabetes-Kind in der Kita: Krankenkasse muss für Pflegeperson zahlen – Familie aus Bottrop gewinnt vor Gericht

Nach einem langjährigen Prozess vor Gericht konnte eine Familie aus Bottrop einen ganz besonderen Fall für sich entscheiden: Krankenkassen müssen demnach in Zukunft für die Kosten einer Pflegeperson für ein Kind mit Diabetes in der Kita aufkommen.
Paul Hecht Diabetes
Paul Hecht mit seinem Vater im Urlaub in Holland. Foto: Daniel Hecht
Paul Hecht mit seinem Vater im Urlaub in Holland. Foto: Daniel Hecht

Für Kinder mit Typ-1-Diabetes ist es ein wegweisendes Urteil. Im Abschluss eines am Sozialgericht Gelsenkirchen verhandelten Falles heißt es: „Die Beklagte wird (…) verurteilt, dem Kläger häusliche Krankenpflege im verlangten Umfang zu bewilligen.“ Damit steht fest: Die Kosten für eine Pflegeperson in der Kita werden von der Krankenkasse übernommen. Und so wird der Weg für Kinder mit Diabetes in die Kita mit der Urteilsfällung vom 14. Oktober 2022 erheblich einfacher. Für dieses Urteil hat Familie Hecht aus Bottrop gekämpft. 2019 reichten sie Klage ein, der Rechtsstreit mit der Barmer zog sich über drei Jahre hin bis zur Gerichtsentscheidung.

2018 wurde beim kleinen Paul Typ-1-Diabetes festgestellt, ein Jahr später sollte er mit drei Jahren in die Kita kommen. Doch nach der Anmeldung fingen die Probleme für die vierköpfige Familie aus dem Ruhrgebiet an. Denn Paul hat eine Insulinpumpe und benötigt eine besondere Betreuung. Doch diese wollten weder die Krankenkasse noch das Sozialamt zahlen. Die Anwältin Lisa Völpel-Klaes aus Gießen wurde über Facebook auf den Fall aufmerksam – und sagte den Eltern Nina und Daniel Hecht* Unterstützung zu.

Familienvater Hecht: „Unsere Rechtsanwältin ist wie ein Sechser im Lotto“

Völpel-Klaes musste bereits ganz ähnliche Erfahrungen mit ihrem Sohn durchmachen: Kinder, die aufgrund ihres Typ-1-Diabetes nicht in die Kita gehen können, weil die Kostenfrage rechtlich nicht geklärt ist. „Lisa brennt für das Thema wie keine andere. Dass sie auf unseren Fall gestoßen ist, fühlt sich für uns noch heute wie ein Sechser im Lotto an. Ohne ihre Hilfe wären wir nie so weit gekommen“, ist Daniel Hecht sich sicher. Die Rechtsanwältin stand der Familie über die gesamte Zeit zur Seite – und konnte den Fall nach zwei gewonnenen Eilverfahren schließlich zu einem positiven Ergebnis führen.

Vom ersten Posting im Dezember 2018 bis heute – das ist eine lange Zeit. Der Gerichtsfall lag immer wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen und verschob sich in der Corona-Zeit immer wieder“, erzählt Familienvater Daniel Hecht, dessen Sohn Paul im kommenden Jahr bereits in die Schule gehen wird. An der grundsätzlichen Problematik hat sich in all den Jahren nichts geändert: Der Fünfjährige trägt eine Insulinpumpe, seit er ein Jahr alt ist. „Erwachsene lieben den Luxus, sich alles von der Pumpe ausrechnen zu lassen. Für junge Kinder ist es auch toll – nur ist die fachgerechte Bedienung der Pumpe leider noch unmöglich in diesem Alter.“

Paul wurde wegen Diabetes aus der Kita ausgeschlossen

Damit Paul in die Kita Schatzkiste in Oberhausen gehen kann, verlangte diese nach einer Pflegeperson – ohne Unterstützung hätte er die Kita nie besuchen können. „Während sich andere Eltern bereits Sorgen machen, überhaupt einen Kita-Platz zu bekommen, kam bei uns noch die verzweifelte Suche nach einer Pflegeperson dazu. Als wir endlich fündig wurden, begann die Diskussion um die Kostenübernahme“, blickt Hecht zurück.

Immerhin konnte die Familie eine Pflegeperson finden: Seitdem kontrolliert sie die Werte des Jungen, achtet auf Unter- und Überzuckerungen, greift im Notfall zu Traubenzucker und Trinkpäckchen. Um die Kosten für die Betreuung wurde dann im Gerichtsfall mit der Barmer Krankenkasse gestritten. Diese wollte die Kosten nicht vollumfänglich übernehmen: Auch die Stadt Oberhausen sollte mit ins Kosten-Boot geholt werden. Doch die stellte sich quer mit der Begründung, dass es sich um eine rein medizinische Betreuung handeln würde.

Später bot die Barmer der Familie „punktuelle Einzelleistungen“ an. „Eine Pflegeperson sollte täglich mehrfach in die Kita kommen, um die Werte von Paul punktuell zu überprüfen.“ Daniel Hecht weiter: „Allein die Vorstellung, dass täglich unterschiedliche Leute in die Kita kommen, um Pauls Pumpe zu kontrollieren  – immerhin doch ein recht intimer Eingriff – das lässt mich bis heute nicht los. Und wirklich praktikabel wäre diese Lösung für keine Partei gewesen, erst recht nicht für den Pflegedienst.”

Der Gerichtsfall rund um Paul hatte bereits zu seinem Start 2019 viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nach einem Facebook-Posting des Familienvaters wurde die Geschichte auch von den Medien aufgegriffen – unter anderem berichteten die Rheinische Post und der Focus zuerst über den Fall.

„Als dann noch ein Fernsehteam bei uns anklingelte, war ich einfach nur baff. Ich hätte nicht gedacht, dass sich so viele Menschen dafür interessieren“, erzählt Daniel Hecht, der zusammen mit seiner Frau auch noch eine geistig behinderte Tochter im Alter von 7 Jahren hat. Es sei ihm unangenehm gewesen, die Familie so in die Öffentlichkeit zu ziehen. „Das ist es bis heute noch. Aber ich weiß auch, dass unser Fall kein Einzelschicksal ist und mit dieser Gerichts-Entscheidung auch anderen Eltern in vergleichbaren Situationen geholfen werden kann. Und das ist sehr wichtig!“

Diabetes in der Kita: Ist eine Pflegeperson überhaupt notwendig?

Paul Hecht Kita

Den vierten Geburtstag in der Kita feierte Paul stilecht im Super Mario Kostüm. Ohne Pflegeperson wäre dies nicht möglich gewesen. Foto: Daniel Hecht

Bei der Betreuung von Diabetes-Kindern in der Kita geht es nicht alleine um die Bedienung der Insulinpumpe. Die Beobachtung ist genauso wichtig – auch während des ganzen Kita-Tages. Eine falsche Reaktion kann lebensbedrohliche Konsequenzen mit sich ziehen. Kein Wunder also, dass die Kita die Kontrolle nicht leisten wollte.

2019 erlangte der tragische Fall einer 13-Jährigen mediales Interesse: Das an Typ-1-Diabetes leidende Mädchen starb überraschend auf einer Klassenfahrt nach London. Nur eines von vielen Beispielen, wie ein falscher Umgang mit der Krankheit katastrophale Folgen haben kann.

„Die Erzieherinnen und Erzieher haben wirklich schon genug zu tun. Für uns stand es außer Frage, dass sie sich auch noch darum kümmern müssen – auch wenn wir es in unserer Verzweiflung manchmal doch gewünscht hätten“, berichtet Hecht.

Die Reaktionen auf die Berichterstattung über Pauls Fall waren gemischt. Es gab viel Zuspruch und große Betroffenheit, aber auch negative Kommentare. „Wir bekamen Zuschriften, dass wir doch selbst auf ihn aufpassen sollen. Oder dass wir uns nicht bei Vater Staat bedienen, gefälligst daheim bleiben und nicht an unsere Karriere im Job denken sollen.“ Darüber ist Daniel Hecht heute noch verblüfft: „Es ist schon merkwürdig, wie sehr die Leute immer an die Eltern und so wenig an die Kinder denken. Uns ging es nie ums Geld oder unser Seelenheil. Hier ging es stets um den Alltag von Paul. Ohne Kita hätte er sicher nicht so schnell Freunde finden können, wäre sozial erheblich zurückgefallen und hätte schlicht einige der schönsten Dinge im Leben eines Kindes verpasst – wie etwa gemeinsame Sankt Martinszüge, das Adventsbasteln und die Ostereiersuche in der Kita.”

Tatsächlich gibt es in Deutschland seit dem 26. März 2009 das sogenannte „Recht auf Teilhabe“. Im Fall von Paul Hecht wäre dies das Recht auf Teilhabe an der Kita – trotz Behinderung.

Diabetes-Kinder in der Kita: Wer zahlt für die Betreuung?

Mit dem nun am 14. Oktober 2022 gefällten Urteil des Sozialgericht Gelsenkirchen sind die Weichen endgültig gestellt: Krankenkassen müssen demnach für eine Pflegeperson in der Kita aufkommen.

Hinweis: Zum Zeitpunkt dieses Beitrags (Ende 2022) ist das Urteil noch nicht online abrufbar. Über die Homepage justiz.nrw, dem Datum „14.10.2022“ und dem dazugehörigen Aktenzeichen „Az.: S 17 KR 3015/19“ dürfte es in den kommenden Monaten dort zu finden sein. Alternativ findet ihr das Urteil auch bald auf der Seite von Anwältin Lisa Völpel-Klaes.

Bislang war es rechtlich nie bindend nachgehalten worden, wer für die Betreuung zahlen muss: Viele Eltern sprachen sich mit dem Kita-Personal ab, kontrollierten ihre Diabetes-Kinder sogar selbst in der Gruppe – was mit dem eigenen Job oft aber nur schwer möglich ist. Immer mit dabei: der Zufall. Mal zahlte eine Krankenkasse, mal nicht, mal übernahm eine Erzieherin die Kontrolle der Pumpe, mal nicht.

„Wenn man eh‘ schon aus allen Wolken fällt, weil das eigene Kind auf einmal Typ-1-Diabetes hat, dann macht es eine so wackelige Rechtsstruktur nicht einfacher. Die Leute sind schlicht auf Glück angewiesen. Mit der neuen Rechtsprechung erhalten Eltern endlich etwas Sicherheit und Hilfe in dieser schwierigen Situation. Das war lange überfällig“, fasst Hecht den Sieg vor Gericht zusammen.

Info: Was ist Diabetes? Unterschiede zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetikern

Diabetes gehört zu den sogenannten Volkskrankheiten, wobei der sogenannte „Typ-2-Diabetes“ in den Medien und in den Köpfen der Leute erheblich populärer ist: Menschen werden unter anderem durch falsche Ernährung zu dick, das lebenswichtige Hormon „Insulin“ kommt nicht mehr zu den Zellen, der Zucker (die Energie) somit auch nicht mehr.

„In den Schulungen spricht man gerne von einem Schlüssel-Hormon. Insulin ist praktisch der Schlüssel dafür, damit sich die Zellen öffnen und den Zucker in Energie weiterverarbeiten können“, erläutert Hecht. Wenn das Insulin also nicht mehr so weit kommt, steigt der Zuckerspiegel. Der Zucker muss dann an anderer Stelle ausgeschieden werden, beispielsweise über die Niere.

„Daher auch der Name Diabetes Mellitus, das ist Altgriechisch für honigsüßer Durchfluss… und neudeutsch für süßes Pippi.“ Der Nachteil: Der „süße Durchfluss“ kann gefährliche und lebensbedrohliche Auswirkungen haben – und betrifft dann neben der Niere auch die Augen, die Füße und viele weitere Nervenbahnen im Körper. Jahrelang galt der Typ 2 als “Alterskrankheit”, mittlerweile sind weltweit auch junge Kinder davon betroffen.

Der „Typ 1“ hingegen, der Diabetes, an dem auch Familienvater Daniel Hecht in jungen Jahren erkrankte, ist weiter mit zahlreichen Fragezeichen versehen. Die Kurzfassung: Die Bauchspeicheldrüse produziert kein Insulin mehr. Über das „Warum“ gibt es bis heute keine befriedigende Antwort. „Der Diabetes ist auf einmal einfach da. Und das leider lebenslang“, erklärt Hecht. Behandelt wird die Krankheit dann mit medizinischem Insulin, welches per Spritze unter die Haut gespritzt oder per Pumpe über einen Katheter abgegeben wird.

Krankheit auf dem Vormarsch: Immer mehr „Diabetes-Kids“

Laut IDF (International Diabetes Federation) gab es bereits 2021 rund 537 Millionen Menschen mit Diabetes weltweit – das ist einer von zehn Erwachsenen im Alter von 20 bis 79 Jahren. Der Anteil der Patienten mit Typ-1-Diabetes fällt bei diesem gigantischen Maßstab nur auf den ersten Blick klein aus: Rund 10 Prozent erkranken an Typ 1. In Deutschland gibt es ca. 373.000 Menschen mit Typ-1-Diabetes, rund 32.000 davon sind Kinder und Jugendliche. Jährlich kommen über 3.100 neue “Diabetes-Kids” zwischen 0 und 17 Jahren dazu (Quelle: via Diabetesinformationsportal).

„Wenn Paul im kommenden August eingeschult wird, müssen wir uns wohl erneut umschauen – das Gespräch mit der Schulleitung haben wir jetzt Anfang 2023. Dank der Schulpflicht ist die rechtliche Situation dann aber wieder komplett anders. Aber es ist ein gutes Gefühl, dass jetzt alle zukünftigen Eltern von jungen Diabetes-Kindern einen etwas leichteren Weg vor sich haben – zumindest was die Kostenfrage in der Kita anbelangt“ sagt Hecht sichtbar erleichtert.

*Wichtige Information in eigener Sache: Daniel Hecht ist Mitarbeiter bei Tonight News, das Gespräch mit dem Familienvater führte Denise Breidbach.