Wobei stammen über 70 % der Weltproduktion aus Lothringen?

Das Elsass kennt jeder. Die Nachbarregion Lothringen will dagegen erst noch entdeckt werden. Es lohnt sich, gerade im Herbst.
Mirabellen
Foto: Sepp photography/shutterstock
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Das Elsass kennt jeder. Die Nachbarregion Lothringen will dagegen erst noch entdeckt werden. Es lohnt sich, gerade im Herbst, wenn das Laub bunt wird. In kaum einer Ecke Frankreichs gibt es so viel Wald. Aber auch Gärten und Parks laden ein. Idealer Ausgangspunkt ist Metz.

Fun Fact: Bei Mirabellen stammen 70 Prozent der Weltproduktion aus Lothringen.

Auf Französisch klingt es gleich viel schöner: La Lorraine heißt die Region, die wir Lothringen nennen. Zu Unrecht rangiert sie bei Touristen erst hinter dem benachbarten Elsass. Lothringen, das auf eine ebenso wechselvolle Geschichte unter unterschiedlichen Herrschern blickt wie seine Nachbarregion, präsentiert sich dabei um einiges französischer. Das zeigt sich schon gleich bei der Ankunft in Metz, dieser charmant quirligen Stadt an der Mosel.

Zuletzt hat sie mit dem spektakulären Neubau der 2010 eröffneten Dependance des Pariser Centre Pompidou für Aufsehen gesorgt. Für Kunstliebhaber ist der Besuch ein Muss. Nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt, sorgt das gigantische Museum mit Blockbuster-Ausstellungen für Furore, wobei allein schon das irrwitzige, an ein Zirkuszelt erinnernde Gebäude des japanischen Architekten Shigeru Ban und des Franzosen Jean de Gastines ein Erlebnis ist.

Unweit des gigantischen Museums weitet sich auf einer 20 Hektar großen ehemaligen Industriebrache der Parc de la Seille, der nicht nur der Erholung und Naturbetrachtung dient: Kinderspielplätze, Sportpisten und einen Rundweg gibt es ebenso wie Wiesen, Themengärten, Hopfenfelder, Weinberge und Plantagen. Mütter fahren hier ihre Kinder spazieren, Jugendliche treffen sich zum Rauchen und Klönen, Jogger ziehen ihre Runden und alle gemeinsam beleben den Park – das größte Naherholungsgebiet der Stadt, die noch einige Parks und Gärten mehr beherbergt.

Wie es in Lothringen überhaupt zahllose Gärten zu entdecken gibt. Eine der bezauberndsten Parklandschaften befindet sich in der verschlafenen und nur 400 Seelen zählenden Ortschaft Ban de Sapt. Der drei Hektar große Park Jardins de Callunes wurde 1996 eröffnet. Er befindet sich auf der Fläche eines ehemaligen Steinbruchs und wurde nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten angelegt. Stundenlang kann man in ihm herumspazieren und dabei zwischen üppig wuchernden Rhododendren, Azaleen und Pfingstrosen immer wieder neue Ein- und Aussichten gewinnen. Allein 250 Arten von Heidekraut wollen besichtigt werden.

Dabei ist der Park durchaus auch ein Beispiel für einen möglichen Umgang mit dem vielbeschworenen Strukturwandel in der Region. Viele der früheren Industriestandorte in Lothringen sind keine mehr, Produktionsstätten wurden in Niedriglohnländer verlegt, und nicht selten durchfährt man wie verlassen wirkende Ortschaften, in denen Stillstand und Langeweile den Ton angeben: Tristesse totale. Neue touristische Attraktionen zu schaffen und die schönen Seiten der Region herauszukehren, ist auch eine Möglichkeit, mit solchen Auswirkungen der Globalisierung umzugehen. Dabei punktet Lothringen nicht nur mit seiner ausnehmend schönen Hauptstadt Metz, sondern auch mit manch anderen buchstäblich herausragenden Attraktionen.

Und damit ist nicht nur die im Volksmund Laterne Gottes genannte Kathedrale von Metz gemeint, ein umwerfend eleganter Sandsteinbau, gleich gegenüber dem Rathaus gelegen. Bei einer Reise durch Lothringen sind es vielmehr immer wieder Angebote hoch oben, die den Fremden zum Staunen zwingen. Den schönsten Anblick und die schönste Aussicht gewährt dabei der Dagsburger Felsen in den Vogesen. Wie ein köstliches Praliné thront die St.-Leo-Kapelle auf dem Buntsandsteinfelsen, 664 Meter über dem Meer. Von dort oben bietet sich den Besuchern ein sagenhafter Blick auf die umliegenden Wälder und darüber hinaus.

Lothringen gehört zu den waldreichsten Regionen Frankreichs, und schon allein deswegen bietet es sich an, im Herbst dorthin zu reisen. Dann färbt sich das Laub in alle Schattierungen von Gelb, Orange und Rot, und der Wald leuchtet in einem einzigen Farbrausch. Natürlich ist die Region auch ein Paradies für Wanderungen und alle erdenklichen Sportarten in der freien Natur.

Kletterer finden zahllose Felsen, die es zu erobern gilt, Wanderer aller Niveaus werden auf zahllosen Routen vorbei an Enzian und Weideröschen geführt, und Mountainbiker können sich unter vielen Strecken, auch waghalsigen, die geeignete aussuchen. Fernab jeglicher städtischer Geschäftigkeit ermöglichen diese Ausflüge in die Natur einen ganz anderen Blick auf die Welt.

Wem das zu langweilig ist – Kindern möglicherweise – bietet der Tierpark Sainte Croix in Rhodes, nicht weit von Sarrebourg gelegen, eine großartige Verbindung von Naturerlebnis und Unterhaltung, die nicht nur jungen Menschen unvergessliche Augenblicke beschert. Mehr als 100 Tierarten aus ganz Europa gibt es in dem Park, der erst gar keine Zoo-Gefühle aufkommen lässt, zu entdecken: Amphibien, Säugetiere, Reptilien, Insekten und Vögel. Darunter sind Wölfe, Waschbären, Bisons, Füchse, Luchse, Geier, Bären, Biber, Pelikane.

Besonders eindrucksstark ist ein Besuch während der Brunftzeit im September und im Oktober. Dann vollziehen die prächtigen Hirsche des Parks ihre lautstarken Kämpfe um die Vorherrschaft. Ihr Röhren beschallt die Landschaft, und Gästeführer beantworten alle Fragen neugieriger Besucher ebenso geistreich wie amüsant. Wer nach tiefergehenden Naturerlebnissen giert, kann auch im Park übernachten, sei es in aufgestellten Biwaks oder in Jägerhütten. Im vergangenen Jahr feierte der Park sein 30-jähriges Bestehen. Wer einmal dort war, fährt wieder hin.

Zwischen dem Park und dem gipfelstürmenden Dabo liegt das Städtchen Sarrebourg. Ein mit rund 15 000 Einwohnern mehr als unauffälliger Ort, an dem es nicht eben viel zu sehen gibt. Kunstliebhaber sollten trotzdem eine Visite wagen, denn im Zentrum von Sarrebourg erhebt sich die schmucke Franziskanerkapelle Chapelle des Cordeliers.

Das wäre noch nicht weiter aufsehenerregend, hätte nicht der Künstler Marc Chagall dort eines seiner vielen, aber eben auch eines seiner größten Glasfenster gestaltet: eine Sinfonie in betörenden Blautönen und dem Titel „Frieden“. Nicht weit von der Kapelle befindet sich ein vorzüglich ausgestattetes Heimatmuseum, das mit einer feinen archäologischen Sammlung aufwartet und weitere Meisterwerke von Chagall präsentiert.

Um einiges spektakulärer ist das Museum in der Zitadelle von Bitche, nahe der deutschen Grenze in den Nordvogesen gelegen. Die Kleinstadt selbst macht zwar, wie so viele in Lothringen, ein müdes Gesicht, aber auch in Bitche geht es wieder hoch hinauf. Die Festung aus Sandstein erhebt sich noch immer einschüchternd über dem Ort. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wurde sie zum Symbol des Widerstands: 230 Tage lang hielten die Verteidiger den angreifenden bayerischen Truppen stand.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Festung dann so schwer getroffen, dass sie später nicht mehr von der Armee genutzt werden konnte. 1960 hat die Stadt die Zitadelle erworben und sie 1979 unter Denkmalschutz gestellt. Auf ihrem Plateau kann man heute einen Rundgang absolvieren, der anhand von Bildern und Hörbeispielen Wissenswertes über die Architektur der Festung vermittelt. Ringsum ruhen die üppigen Wälder. Ein Museum versammelt Archivbilder, Waffen, Uniformen und mehr. Doch der eigentliche Clou der Festung verbirgt sich unter der Erde: Dort erleben die Besucher die Ereignisse während des Krieges von 1870/71 als Spielfilm-Spektakel nach.

Mit Kopfhörern ausgerüstet werden sie von Station zu Station gelotst. Dort werden Sequenzen aus dem Film „Die belagerte Festung“ eingespielt. Dabei gelingt es den Filmemachern, einen erschreckenden Eindruck der damaligen Ereignisse zu geben. Kinder, die noch nicht im Teenageralter sind, sollten sich die blutige Geschichtsnachhilfe womöglich ersparen. Für alle anderen dürfte sich der unterirdische Rundgang als aufrüttelnder Antikriegsfilm erweisen. Wieder draußen im Tageslicht der Gegenwart, erweist sich der Blick in das dicht bewaldete Umland ringsum jedenfalls als beruhigender und wohltuender denn je.

dpa