Was ist „ganz außerordentlich klein im Vergleich zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika oder China“?

Lummerland ist "ganz außerordentlich klein im Vergleich zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika oder China".
Lummerland
Foto: Bernd Settnik/dpa-Zentralbild/dpa
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Es geht um eine Insel mit zwei Bergen, um ein angespültes, schwarzes Baby, und einen Lokführer und böse Drachen. Und nach 60 Jahren auch ein wenig um die Frage, inwieweit Kinderliteratur rassistische Klischees verbreiten kann. 2020 wurde die berühmte Abenteuergeschichte „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ 60 Jahre alt.

Das Buch von Michael Ende hat Millionen Kindern Freude bereitet – Kritiker bemängeln aber die mitunter stereotype Darstellung des kleinen afrikanischen Jungen Jim, der in Lummerland lebt, das „ganz außerordentlich klein im Vergleich zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika oder China“. Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hält indes überhaupt nichts davon, Schulbücher rückwirkend umzuschreiben.

Eine Kita-Leiterin aus Hamburg hatte in einem Interview der „Zeit“ bemängelt, wie die Geschichte um den dunkelhäutigen Jim Knopf in vielen Kitas noch unkritisch gelesen werde. Die Geschichte reproduziere viele Klischees zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen. Vor allem die Passage, in der Jim als „Neger“ bezeichnet wird, ist umstritten. Der Verlag will das heute für schwarze Menschen als rassistisch geltende Wort vorerst erhalten.

Immer wieder kochen Diskussionen hoch um offensichtlichen oder unterschwelligen Rassismus in Kinderbüchern. Jim Knopf ist nicht das einzige Beispiel. Astrid Lindgren bezeichnete den Vater von Pipi Langstrumpf zunächst als den „Negerkönig aus Taka-Tuka-Land“, in einer neueren Fassung wurde er zum „Südseekönig“.

„Das sind Diskussionen, die für mich total skurril sind“, sagte Kultusministerin Eisenmann der Deutschen Presse-Agentur. Man könne nicht im Nachhinein Dinge korrigieren, die vor 100 oder 200 Jahren entstanden seien und aus der heutigen Sicht nicht dem Zeitgeist entsprächen. „Das sind schöne Geschichten, bei denen sich die Autoren – aus ihrer Zeit herauskommend – über gewisse Aspekte vielleicht gar keine Gedanken gemacht haben“, sagt sie.

Besonders Kinderbücher könnten rassistische Vorstellungen in der Gesellschaft zementieren, warnt Professor Heidrun Kämper vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Welche Rolle spielt die Figur des Schwarzen? Warum ist das vor 60 Jahren so aufgeschrieben worden? Wie würde man Jim Knopf heute aufschreiben? Kindern mit zehn oder zwölf Jahren könne man solche Themen bereits vermitteln, sagte Kämper. Ohne eine solche Einordnung setze sich das Unterbewusstsein weiter fest, dass Menschen nicht gleichwertig seien.

Die Sprachwissenschaftlerin Kämper plädiert nicht fürs Umschreiben, aber für Fußnoten, Einschübe und Kommentierungen. „Wenn wir davon ausgehen könnten, dass ein allgemeines Bewusstsein in der Gesellschaft vorhanden ist, dass ein Buch wie Jim Knopf rassistische Elemente enthält, dann könnten wir das auch Lehrern und Eltern überlassen“, sagte sie. „Aber können wir leider nicht.“ Es werde noch dauern, bis das Thema in den Köpfen in der Breite angekommen ist.

Riem Spielhaus will die alte Fassung von Jim Knopf so nicht ihren Kindern vorlesen. „Einer Fünfjährigen zu erklären, warum das N-Wort schwierig ist, fand ich als Mutter herausfordernd.“ Sie leitet die Abteilung „Wissen im Umbruch“ am Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Fußnoten seien für den Umgang in der Grundschule ungeeignet, sagte sie. Sie könne nicht nachvollziehen, wenn Kinderbücher zu geradezu heiligen Texten erklärt würden. „Das ist doch nicht die Bibel. Das ist doch nicht in Stein gemeißelt“, sagte Spielhaus zum Buch von Michael Ende. „Literatur ist dafür da, immer wieder neu verstanden und interpretiert und im Kontext der Zeit gedeutet zu werden.“

„Man kann es so oder so lesen“, sagte Spielhaus zu Jim Knopf. Michael Ende habe eigentlich ein dezidiert anti-rassistisches Buch geschrieben. So gehe es in dem Buch etwa den Halbdrachen Nepomuk, halb Drache, halb Nilpferd, der wegen seiner mangelnden Reinrassigkeit ausgegrenzt wird. Ende lege es geradezu drauf an, dass man über Rassismus diskutiere. Für Eisenmanns Position hatte Spielhaus daher wenig Verständnis. „Ich würde mich freuen, wenn eine Bildungsministerin eine solche Debatte dankbar aufgreift.“

Natürlich müssten bestimmte Geschichten eingeordnet werden, aber das würden Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte oder die Eltern auch tun, sagte Eisenmann. Aber: „Ich hätte überhaupt kein Verständnis dafür, wenn man jetzt anfinge, Grimms Märchen umzuschreiben.“ Die CDU-Politikerin wollte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im Frühjahr 2021 aus dem Amt jagen. Der hatte sich im Sommer 2020 erst über Sprachpolizisten und „Tugendterror“ echauffiert.

Das Kultusministerium lasse die Lehrer beim Thema Rassismus zu sehr allein, kritisierte die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Doro Moritz. Rassismus müsse insgesamt viel stärker im Unterrichtsalltag thematisiert werden – in allen Fächern, sagte Moritz. Es gebe aber keine Lehrerfortbildungen und zu wenig Begleitmaterialien in dem Bereich. Die Lehrergewerkschaft forderte ein Fach Ethik für die Grundschule, um sich mit dem Thema tiefer zu beschäftigen. Man dürfe traditionelle Kinderbücher nicht einfach aus der Schule entfernen. Man müsse sich mit ihnen auseinandersetzen.

dpa