Sasa Stanisic erzählt vom Zufall der Herkunft

Großtanten, die ins Weltall fliegen wollen, schwimmunfähige Flößer – und ein Autor, der die Erinnerungen seiner Familie zum Leben erweckt
Schriftsteller Sasa Stanisic
Foto: Daniel Reinhardt/dpa
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Großtanten, die ins Weltall fliegen wollen, schwimmunfähige Flößer – und ein Autor, der die Erinnerungen seiner Familie zum Leben erweckt: Mit „Herkunft“ liefert Buchpreis-Gewinner Sasa Stanisic den Text der Stunde.

Eine Welt, in der Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig leben: So hat Saša Stanišić, der am Montagabend den Deutschen Buchpreis 2019 gewonnen hat, seiner Großmutter seine Romane erklärt. Um es vorwegzunehmen – die Großmutter lebt nicht mehr. Sie starb während der Arbeiten an seinem Roman „Herkunft“. In dem Buch hat der Enkel Wort gehalten und seiner Familie – allen voran der Großmutter – ein Denkmal gesetzt. Das Ergebnis ist weit mehr als ein Familienporträt.

In seinem vierten Roman erzählt der 1978 im jugoslawischen Visegrad geborene Autor von der Flucht vor dem Jugoslawien-Krieg, der seine Familie in die Welt verstreute. Er beschreibt das Ankommen in Deutschland – mit einem Mund voller Karies und einer Mischung aus Angst und Erwartung. In Heidelberg findet er die erste Liebe und entdeckt die deutsche Romantik: Hölderlin und Eichendorff.

Stanišić, der schon vor fünf Jahren den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Werk „Vor dem Fest“ erhielt, sammelt Erinnerungsfragmente und verbindet sie erzählerisch. Weil Erinnerung nicht chronologisch abläuft, springt er zwischen Orten, Personen, Lebensphasen. Wie er das tut, ist große Erzählkunst. Aus den rührenden, aberwitzigen, eigenartigen, manchmal märchenhaften Anekdoten von Stanišić und dessen Vorfahren wird so etwas größeres: eine Erzählung über das Geschichtenerzählen selbst.

„Herkunft“ erzählt, wie Erinnerungen zu Geschichten werden – und wie wir uns durch diese selbst erschaffen. In gewisser Weise geht es um den Kern des Daseins: Sein und Vergehen, „Glück und Tod“, wie Saša Stanišić selbst schreibt. Unterwegs lernt man Stanišićs Großtante Zagorka kennen, die mit 15 Jahren mit nichts als ihrer treuen Ziege loszieht, um in der Sowjetunion Kosmonautin zu werden. Oder den entfernten Verwandten Gavrilo, der Stanišićs Selbstsuche bei einem Besuch im Dorf seiner Großeltern in Bosnien ein wenig abkürzen möchte.

„Von hier. Du bist von hier“, sagt Gavrilo, nachdem er Stanišić hat ausschwadronieren lassen, der erst einmal definieren will, worauf das «Woher» in der Frage «Woher kommst Du?» überhaupt abzielt: «die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe?» Man lernt Stanišićs Großeltern kennen – besonders jene demente Großmutter, die ihre Erinnerungen verliert, während der Autor seine gerade aufschreibt. Und die sind auch vom Verlust gezeichnet.

Als 1991 der Krieg ausbricht, kennt der Autor das Wort „Genozid“ nur aus dem Geschichtsunterricht. Stanišić braucht keine Zahlen, die das Leid beziffern, keine Schilderung von Gräuel. Wie der Krieg in das Private eindringt, Familien auseinanderreißt, Gesellschaften zerstört, zeigt der Autor zum Beispiel mit einer Auflistung scheinbar banaler Dinge: «Hier ist eine Liste von Dingen, die ich hatte.»

Zu den Dingen, die er hatte, gehörten Bücher. 1991 entdeckt er ein neues Genre, bei dem der Leser über den Fortgang der Geschichte entscheiden darf. „Rufst Du: „Aus dem Weg, Höllengezücht, sonst schneid ich Dir die Adern durch!“ – lies weiter auf Seite 312.“ Es ist der maximale Gegensatz zum eigenen Leben, das angesichts der Ereignisse im zerfallenden Jugoslawien dem eigenen Einfluss entgleitet. Auch in «Herkunft» darf der Leser am Ende mitentscheiden.

1992 kommt die Familie in Deutschland an. Ein Zahnarzt, den Stanišić „Dr. Heimat“ nennt, befreit den damals 15-Jährigen von Karies und lädt ihn mit seinem Großvater Muhamed zum Angeln am Neckar ein, als Stanišić von dessen Traurigkeit in Deutschland erzählt. „(E)in Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten“, schreibt er.

Die Geschichten, die „Herkunft“ erzählt, sind rührend, fesselnd – und voller Einsichten. Dass das, was wir Identität, Heimat oder Herkunft nennen, mehr ist als eine Ortsangabe – ein Konstrukt und vor allem zutiefst persönlich – ist nur eine davon. Doch liefert Stanisic mit ihr einen wichtigen Debattenbeitrag, wenn nicht das Buch der Stunde: Es ist eine Botschaft von Relevanz in einer Zeit, in der Identität und Heimat wieder auf Wahlplakaten verhandelt werden.

mit dpa-Material