Alltags-Rassimus in Amerika: Life is Strange 2 im Test für Playstation 4

Die Geschichte um Max, Chloe und das Hafenstädtchen Arcadia Bay ist zu Ende erzählt. Jetzt stehen der 16-jährige Sean Díaz und sein kleiner Bruder im Fokus.
Foto: Square Enix
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Von Marco Mainz

Die Geschichte um Max, Chloe und das idyllische Hafenstädtchen Arcadia Bay ist zu Ende erzählt. Damit ist die Reihe aber noch längst nicht beendet. In Life is Strange 2 stehen nun der 16-jährige Sean Díaz und sein kleiner Bruder Daniel im Fokus.

Vorsicht: In diesem Review werden einige Dinge angesprochen, welche einige von euch als „Spoiler!“ auffassen könnten. Dabei beziehen wir uns vor allem auf den Anfang der Episode.

Der junge Sean wohnt mit seinem Vater und Bruder in einem bescheidenen Heim im Vorort von Seattle. Sean ist inmitten der Pubertät. Die Gedanken kreisen sich demnach weniger um Hausaufgaben als um süße Mädels, Autos und das Rauchen von Weed. An einem Freitag nach der Schule verabredet er sich mit seiner besten Freundin Layla zu einer Party. Eigentlich gar nicht so Sean’s Ding, würde nicht auch seine Flamme Jenn hingehen Er sagt also zu. Zuhause noch schnell ein paar Snacks eingepackt und bei Papa Estebán um Geld gebettelt.

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Zwei Brüder, eine Reise und kein Weg zurück

Doch bevor es losgehen kann, beginnt der räudige Nachbarsjunge vor der Tür Streit mit Daniel, weil dieser ihn mit Kunstblut vollschmierte. Sean lässt sich nicht zweimal bitten und eilt seinem kleinen Bruder zur Hilfe. Der in eine Prügelei ausartende Konflikt ruft nicht nur Sean’s Vater, sondern auch einen Polizisten auf den Plan.

Der Officer sieht den am Boden röchelnden Nachbarsjungen in seinem rot verschmierten Hemd und zieht sofort seine Waffe. Keine Zeit für große Erklärungen. Während sich Sean und sein Bruder wie Kriminelle auf dem Boden ausbreiten, steht ihr Vater noch immer schlichtend vor der Szenerie. Der Polizist plärrt weiter seine Anweisungen. Großer Trubel. Es kommt zum Schuss. Der Vater stirbt. Im nächsten Moment geht von Daniel eine fetzige Druckwelle aus, die alles im Umkreis verwüstet. Sirenen ertönen in der Ferne. Sean packt seinen bewusstlos gewordenen Bruder und flieht.

Hier beginnt der ungewollte Roadtrip der beiden Jungs. Wir machen einen Zeitsprung von zwei Tagen. Sean und Daniel sind “on the road”. Auf Straßen, gesäumt von Wäldern und Gebirgen, laufen sie gen Süden. Ihr Ziel? Unbekannt. Daniel hat sein Gedächtnis verloren und erinnert sich weder an ihren tragischen Verlust, noch an seine verborgene Superkraft. Sean verklickert ihm, dass sie zusammen ein Abenteuer erleben und ihr Vater nicht mit konnte. Dass sie in Wahrheit von zuhause fliehen und landesweit gesucht werden verschweigt er. So wird für Daniel aus der traurigen Flucht ein spannender Campingausflug.

Die zwei von der Tankstelle

Die Beziehung zu Daniel ist ein wesentlicher Bestandteil des Spiels. In Life is Strange 2 geht es nicht nur darum, richtige Entscheidung zu akuten Problemen zu treffen. Als Spieler des großen Bruders sind wir ein Vorbild. Stehlen wir, und sei es aus Hunger, wird sich Daniel das merken und eventuell sogar selbst zum kleinen Dieb. Das macht jeden Entschluss doppelt so knifflig. Besonders weil jede Entscheidung nun stärker in das Spiel verwoben ist. Früher oder später knallt uns nämlich alles wieder um die Ohren.

Durch die gemeinsame Reise ergeben sich spezielle Interaktionsmöglichkeiten mit dem Bruder. Wir können zusammen Feuerholz sammeln, verstecken spielen oder TV schauen. Je nachdem wie wir uns Daniel gegenüber verhalten, ändert sich auch die Beziehung zwischen uns. Dabei schafft es Entwickler „Dontnod“ erstaunlich gut den kleinen Jungen zu charakterisieren. Jede Handlung, jeder Widerspruch und jede Verspieltheit könnte zweifelsohne als echt durchgehen.

Als mittelgroße Neuerung kristallisiert sich Sean’s Rucksack heraus. Alles was wir den Spielverlauf über sammeln, landet dort drin und wird von uns verwaltet. Sammelbares, das sich in den einzelnen Abschnitten finden lässt, klemmen wir an ihn. Je mehr wir dran ploppen können, desto besser. Macht sich schließlich schick während unserer Wanderung!

Wir haben sogar Geld, das wir frei nach Belieben ausgeben können. An einer Tankstelle gilt es beispielsweise unseren monströsen Hunger zu stillen. Frage: Was knallen wir uns zwischen die Kiemen? Frisch dampfende Hot Dogs, trockenes Brot oder doch die geilen Schokoriegel? Wir haben die Wahl. Wenn uns dieselbe Geldmenge nun auch noch in den kommenden Episoden begleitet und uns zum Haushalten zwingt, dann könnten sich die popeligen Scheine zu einem wahren Traumfeature entwickeln.

“Alles ist politisch”

Life is Strange steht immer auch ein wenig für Kunst. Max Caulfield aus der ersten Staffel liebte es zu fotografieren, während ihre beste Freundin Chloe sich im Spin-Off mit Graffitis durch Arcadia Bay kritzelte. Auch in unserem 16-jährigen Mexikaner schlummert ein Feingeist, der in seinen ruhigen Momenten immer wieder erwacht. Dann greift Sean nämlich zu seinem Notizbuch und fängt an zu zeichnen. Im Spiel müssen wir dafür unser Motiv genau studieren und danach wild den rechten Analogstick hin und her bewegen, um seine Stiftbewegungen zu adaptieren. Nette Idee, die Steuerung ist jedoch etwas stupide umgesetzt, da die Zeichnung trotz Kritzelsounds und harten Stickbewegungen nur gemächlich erscheint. Stichwort: Feedback. Leider nicht so gelungen.

Tadellos ist dagegen einmal mehr die Inszenierung. Der typische Life is Strange Vibe ist wieder mit an Bord. Heißt, melancholische Musikuntermalung, die zum Abschalten anregt und zugleich nie zu kitschig wirkt. Dazu gibt es wieder einen etwas matschig wirkenden Aquarell-Grafikstil inklusive tollen Lichteffekten. Die Reihe weiß einfach mit ihrer Engine umzugehen und spendiert tolle Szenerien im Sekundentakt. Da lassen wir uns gerne immer wieder in die Couch fallen.

So schön Life is Strange 2 auch ist, ein ganz bestimmtes Motiv darf nicht unerwähnt bleiben: Politik. So oft sich Games gerne hinter fantastischen Welten verstecken, so stark drückt Life is Strange 2 seinen Daumen auf die aktuelle Amerika-Politik. Bereits der tragische Beginn, wo Seans Vater vorschnell von einem Polizisten erschossen wird, weist auf die Missstände hin, dass immer mal wieder Menschen in den USA schuldlos durch Polizeigewalt sterben.

Durch die mexikanische Herkunft der fiktiven Familie wird zudem das Fass “Rassismus” geöffnet, dem sich die Entwickler verstärkt widmen. So werden die Jungs an der bereits genannten Tankstelle zunächst von einem Familienvater angefeindet und später ohne jegliche Indizien des Diebstahls bezichtigt. Sogar der von Trump geforderte Mauerbau zwischen den USA und Mexiko wird von einem Rassisten herbeigewünscht, damit “Leute wie wir” nicht mehr in das Land kommen.

Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. So treffen wir im Laufe des Spiels mit dem wandernden Reise-Journalisten Brody auf jemanden, der uns herzlich empfängt und sogar ein Stück mitnimmt. Auf die Nachfrage, ob er politisch sei, bringt er den wichtigsten Satz der Episode: “Alles ist politisch, Sean”. Eine Aussage, die ins Mark trifft und für einen kurzen Moment die vierte Wand durchbricht. Denn nicht nur das, was wir im Spiel sehen ist politisch. Das Spiel selber und nicht zuletzt wir Spieler sind es. Eine Szene zum Ende der Episode, die stark zum Reflektieren anregt. Grandios gemacht!

Fazit

Wer hätte das gedacht? Life is Strange funktioniert auch ohne Max, Chloe und co. Entwickler Dontnod schnappt sich all das, was die erste Staffel so gut gemacht hat, poliert links und rechts ein paar Stellen und setzt neue Charaktere in das Setting. Tadaaa, ein tolles Spiel. Aber eben auch mit altbekannten Mechaniken und mit Verweis auf einen pubertären Gefühlskodex, den wir so schon von Max und Chloe kennen. Die zweite Staffel setzt daher sicher keine neuen spielerischen Maßstäbe.

Großer Respekt muss hier einmal mehr an die Narrative gehen. Life is Strange bestach schon immer durch hervorragend ausgearbeitete Charaktere. Mit dem Fokus auf eine mexikanische Familientragödie und der offenen Ansprache zum Thema Polizeigewalt und Rassismus, wagt sich Square Enix diesmal sehr weit aus dem Fenster und provoziert einen emotionsgeladenen Diskurs. Auf der anderen Seite setzen die Japaner hier ein Denkmal und zeigen, dass Videospiele mit ihrer erzählerischen Macht genauso als kritisches Medium genutzt werden können wie Filme oder Bücher.

Episode 1 von Life is Strange 2 ist der Startschuss einer ambitionierten fünfteiligen Staffel, die wir sowohl Serienfans als auch Neulingen ans Herz legen möchten. Auf die Bewertung einzelner Episoden verzichten wir an dieser Stelle und vertagen unser Urteil auf das Staffelfinale.