Wahnsinn? Das ist SPARTA!: Assassin’s Creed Odyssey im Test

Ubisoft wird nicht müde, Assassin’s Creed neu zu erfinden. Die Odyssey ist mehr Rollenspiel als Action-Adventure, das Ergebnis trotz ein paar Abzügen gelungen.
Foto: Ubisoft
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Ubisoft wird nicht müde, Assassin’s Creed neu zu erfinden. Das neue „Odyssey“ ist mehr Rollenspiel als Action-Adventure. Trotz ein paar Abzüge in der B-Note ist das Ergebnis gelungen – und macht Lust auf mehr.

Ich gebe es zu: Ich bin ein Assassin’s-Creed-Fanboy. Das Meucheln, Schleichen und Führen tiefsinniger Diskussion im historischen Setting hat mich gepackt. Schon seit Jahren. Und dennoch war ich nach der Gamescom etwas nervös, ob Odyssey noch das Assassin’s Creed ist, das ich kenne und mag. Machen wir es kurz: Es ist anders, aber es ist auch nicht schlecht. Ganz im Gegenteil.

Das Spiel beginnt mit seiner eigenen Interpretation der berühmten Schlacht der 300 spartanischen Krieger unter Führung von Leonidas bei den Thermopylen gegen zehntausende Perser. Sehr viel kürzer als im Film „300“, aber nicht minder episch.

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Und Schnitt. Es folgt der obligatorische Schwenk in die Gegenwart: Der Speer des Leonidas wird im Animus eingesetzt, um die Vergangenheit zu durchleben. Das Blut auf dem Speer ist aber verunreinigt und bietet darum zwei Optionen, um die Geschichte im Jahr 431 vor unserer Zeitrechnung zu durchleben – einmal als Alexios oder als Kassandra. Geschickt wird so die Wahl zwischen einem männlichen und einem weiblichen Charakter geboten. Einen großen Unterschied macht es für das Spiel nicht, aber Kassandra wirkt eine Spur cooler und sieht zudem verdammt gut aus. Also spielen wir mit Kassandra auf der Xbox One X.

Wow, sieht das gut aus!

Und schon finden wir uns auf der kleinen Insel Kephallonia wieder. Ziemlich abgelegen vom Rest Griechenlands und insgesamt sehr beschaulich. Doch was uns als Erstes auffällt: „Wow, was für eine fantastische Grafikkulisse!“ Man muss zwar ein wenig im Hauptmenü an den HDR- und Helligkeitseinstellungen schrauben. Aber heilige Weihnacht sieht die griechische Welt überragend gut aus, und sie wirkt so lebendig.

Nach den Wüsten in Origins ist das eine unerwartete und willkommene Abwechslung. Kleine Abzüge in der B-Note: So gut die Welt umgesetzt worden ist, manche Animationen von Kassandra und anderer Figuren wirken etwas steif. Auch in den Zwischensequenzen ist die Umsetzung mancher Figuren nicht immer optimal gelungen. Es stört zwar nicht weiter, man merkt aber, dass da noch Luft nach oben ist. Es fällt auch nur auf, weil die Welt selbst so gut aussieht. Für das Spiel selbst indes ist das nicht entscheidend.

Und beim Spiel hat sich einiges getan: Auf den ersten Blick ähnelt das Kampfsystem dem von Origins. Auf den zweiten aber merkt man dann doch Unterschiede. Kassandra hat mehr Möglichkeiten, um auf Gegner zu reagieren. Und das ist auch dringend nötig, weil das simple Draufhauen einen nur bei Tieren auf den unteren Levels weiterhilft: Parieren, ausweichen, angreifen, Spezialfähigkeiten einsetzen – das muss man erst einmal lernen. Zum Glück führt das Spiel einen langsam dorthin. Anfangs ist die Herausforderung nicht so groß, der Schwierigkeitsgrad steigt dann aber – weil die Gegner mit mir aufleveln. Ja, ihr habt richtig verstanden: Ihr werdet niemals ein übermächtiger Söldner werden, weil die Feinde mit euch aufsteigen.

Aber dann werde ich eben ein Assassine und schlage aus dem Dunkel der Schatten zu. Das klappt nur theoretisch, weil Ubisoft eben das verhindern wollte: Auf höheren Leveln fügt ihr als „Attentäter“ meist nicht mehr genug Schaden zu, um Gegner sofort zu erledigen – und findet euch in einem Kampf wieder. Einzelne Gegner sind dabei oft nicht das Problem, aber jede Klopperei alarmiert noch andere Feinde. Und größere Gruppen, die noch von Bogenschützen unterstützt werden, sind dann nicht mehr so einfach zu bewältigen. Mit anderen Worten: Ihr kämpft, weicht aus, sucht einen besseren Ort und kämpft weiter.

Der Spartan Kick-Tipp

Dabei nutzt ihr das gesamte Arsenal eurer besonderen Fähigkeiten, die ihr wie in einem Rollenspiel mit Skillpoints freischaltet – und die bekommt ihr, wenn ihr ein Level aufsteigt.

Tipp: Fähigkeiten, die euch heilen oder es erlauben ganze Gruppen niederzustrecken solltet ihr zuerst freischalten.

Und geht taktisch vor: Ihr könnt mit etwas Geduld größere Gruppen im Vorfeld dezimieren, indem ihr einzelne Gegner mit Pfeilen weglockt – um sie dann nacheinander zu erledigen. Der beste Tipp aber: Denkt an den „Spartan Kick“. Damit könnt ihr selbst gegen übermächtige Gegner bestehen. Ich bin auf ein Dach geklettert und habe gewartet, bis sie mir folgen. Dann habe ich sie vom Dach getreten. Der Kick selbst fügt bereits mächtig Schaden zu, der Sturz selbst dann aber auch noch einmal. Gelobt sei die Schwerkraft.

Außerdem: Denkt an eure Waffen und Rüstungen. Das klingt banal, ich weiß. Aber Waffen und Rüstungen unterteilen sich nicht nur in gewöhnlich, selten, episch und legendär. Sie haben neben ihren Basiswerten auch noch bestimmte Vorteile in diversen Situationen, die ihr im Menü ablesen könnt. Manche sind besser geeignet für Attentate, andere für den Kampf und einige für Bogenschützen. Ihr wählt je nach eurer Spielweise das aus, was euch am besten unterstützt.

Um es noch etwas komplexer zu machen, könnt ihr Waffen und Rüstungen zusätzlich mit Gravuren noch besser machen. Die findet ihr im Laufe des Spiels oder wenn ihr abseits der Hauptgeschichte Rätsel löst. Beispielsweise könnt ihr eine Gravur recht früh am Anfang entdecken, die euch zehn Prozent mehr kritischen Schaden beschert, wenn ihr bei voller Gesundheit seid. Das ist ideal für Attentäter.

Macht euch keine Sorgen: Ihr könnt Gravuren nicht verschwenden, sondern wieder neu anbringen lassen, wenn ihr Waffen und Rüstungen wechselt. Aber wechselt nicht zu oft: Waffen und Rüstungen lassen sich mit nötigem Kleingeld und Ressourcen auch verbessern, um sich eurem Level anzugleichen. Wenn ihr erst einmal ein episches Set gefunden habt, das euch gefällt, könnt ihr es so lange Zeit behalten und verbessern. Das Problem sind nur die Ressourcen, die ihr dafür benötigt. Ihr habt ständig zu wenig Olivenholz, Felle, Eisen oder Obsidian. Denn das benutzt ihr auch, um euer Schiff, die Ardestria, zu verbessern. Und das müsst ihr, weil ihr viel auf See unterwegs seid und immer wieder in Schiffskämpfe verwickelt seid.

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Komplexes Waffen-, Rüstungs- und Fähigkeiten-System

Der Schiffskampf gleicht dabei dem in Black Flag – nur habt ihr keine Kanonen, sondern vor allem Bogenschützen. Ihr manövriert ihr euch längsseits, beschießt den Gegner, rammt ihn vielleicht sogar – bis ihr dann an einem Punkt entern könnt. Nebenbei: nicht nur euer Schiff lässt sich verbessern, sondern auch die Besatzung. Ubisoft hat sich da von „Metal Gear Solid: The Phantom Pain“ inspirieren lassen. Wenn ihr auf legendäre Piraten oder Söldner trifft, müsst ihr sie nicht töten: Ihr könnt sie auch niederringen und rekrutieren – bis ihr eine epische Besatzung an Bord habt. Keine Sorge: Die Söldner trefft ihr fast automatisch, weil immer wieder ein Kopfgeld auf euch ausgesetzt wird.

Die Söldner könnt ihr in einem eigenen Menü betrachten, das ein wenig an das Nemesis-System aus „Shadow of Mordor“ erinnert. Das bietet auch die Möglichkeit, euch vorher Gedanken zu machen: Will ich den Söldner besiegen und seine exklusive Ausrüstung an mich nehmen? Oder will ich ihn lieber rekrutieren? Aber seid gewarnt: Die Kämpfe mit den Söldnern sind herausfordernd. Ebenso wie Kämpfe gegen Figuren aus der griechischen Mythologie. Die hammerharte „Medusa“ kennen wir schon aus der Gamescom-Präsentation, aber es gibt da noch mehr solcher unheimlicher Gestalten aus der griechischen Sagenwelt.

Es gibt also viel zu tun in Odyssey – und viel zu erforschen. Am Anfang könnt ihr wählen, ob ihr im Entdecker-Modus spielen wollt. Dann gibt es so gut wie keine Hinweise zu Verstecken, Neben- und Hauptmissionen auf der Karte. Ihr seid dann auf euch selbst, eure Neugier und euren Orientierungssinn angewiesen.

Zum Glück habt ihr wie in Origins euren treuen Adler an der Seite: Der hört auf den Namen Ikaros und ist eine unverzichtbare Hilfe, um Personen, Gegenstände oder Orte zu entdecken. Auch im optionalen klassischen Modus. Der soll euch das bieten, was ihr aus Assassin’s Creed gewohnt seid. Also eine mit Symbolen zugekleisterte Karte. Und das stimmt im Prinzip auch. Aber selbst im klassischen Modus poppen nun nicht mehr so viele Hinweise auf der Karte auf. Es bleibt eher rudimentär. Und bei bestimmten Rätseln gibt es ohnehin keine Markierungen und seid ihr auf euch selbst und vor allem Ikaros angewiesen.

Die Story ist etwas zerfasert, die Nebenmissionen sind oft top

Und was ist mit der Story? Natürlich geht es um den Speer von Leonidas, aber auch um die Familiengeschichte von Kassandra und den Krieg zwischen dem Attischen Seebund unter Führung Athens und dem Peloponnesischen Bund mit Sparta an der Spitze. Dabei trifft Kassandra auf den Kult von Kosmos und natürlich die Relikte der Ersten Zivilisation.

Es gibt mehrere Erzählstränge in der Hauptgeschichte, die am Ende aber wieder zusammenlaufen – auch in der Gegenwart. Und da gibt es dann wieder Abzüge in der B-Note: Es kommt kein richtiger Story-Fluss auf, weil es zu viele Facetten gibt, die erst nach und nach ein Ganzes ergeben. Die Story wirkt so etwas zerfasert. Zumal es noch viele Nebenmissionen gibt, die tatsächlich abwechslungsreich sind und gute bis sehr gute Geschichten erzählen.

Kommt euch das bekannt vor? Die Macher von Assassin’s Creed Odyssey haben offenbar sehr intensiv „Witcher 3“ gespielt und einiges von dieser Rollenspiel-Philosophie übernommen. Zumal es oft zwei Ansätze gibt, Missionen zu lösen: kriegerisch oder diplomatisch. Mal davon abgesehen, dass sich manche Nebenmission über Stunden und mehrere Inseln erstrecken oder erst möglich werden, wenn ihr vorher eine andere Nebenmission absolviert habt.

Nicht alles offenbart sich eben sofort. Das gilt auch für Folgen von Entscheidungen. Am Anfang beispielsweise könnt ihr in einem Dorf, in dem eine Seuche grassiert, eine Familie vor der Hinrichtung retten – oder auch nicht. Mischt ihr euch ein, tragen sie die Seuche dann in andere Dörfer, weil sie bereits erkrankt sind. Lasst ihr sie sterben, rettet ihr die Insel – ihr müsst dann aber eurer kindlichen Freundin erklären, warum Kassandra ihre Spielgefährten hat sterben lassen.

Kassandra oder Alexios – beide sind echte Persönlichkeiten

Aber gerade solche Momente machen aus Kassandra oder wahlweise Alexios Menschen, mit denen ich fühlen kann. Wir starten mit ihnen in jungen Jahren, entwickeln uns mit ihnen und lernen dazu. Wir wachsen mit den Figuren, die zu echten Persönlichkeiten heranreifen – aufgrund unserer Entscheidungen im Spiel.

Ubisoft ist es gelungen, echte Charaktere zu erschaffen. Und nach ein paar Stunden habe ich Kassandra in mein Herz geschlossen. Ich leide tatsächlich mit ihr in der griechischen Welt und muss bei jedem „Malaka!“ – schaut selbst nach, was das heißt oder nutzt die Untertitel – grinsen. Und wenn sie recht früh zu Beginn des Spiels etwas in der Hand hält, was der Gegner zurückhaben möchte und sie es dann bei einer Ziege wie ein Zäpfchen benutzt, muss ich lachen – vor allem bei dem Satz: „Dann hol’ es dir doch wieder.“ So ganz ernst nimmt das Spiel sich und seine Figuren nicht. Und gerade das macht Spaß.

Fazit

Ubisoft hat geliefert. Assassin’s Creed Odyssey ist eins der besten Spiele der Reihe und ein großer Schritt weg von dem, was man sonst erwartet hätte. Mit „Origins“ hatte sich bereits abgezeichnet, dass aus dem Action-Adventure immer mehr ein Rollenspiel wird. Odyssey ist tatsächlich nicht mehr weit davon entfernt. Wenn der Fähigkeiten-Baum noch mehr Möglichkeiten bietet, das Gameplay noch etwas freier wird und das Storytelling etwas weniger zerfasert ist, dann wird Ubisoft angekommen sein.

Wenn in zwei Jahren das nächste Assassin’s Creed wahrscheinlich für die nächste Konsolengeneration erscheint, könnte es „Witcher 3“ ebenbürtig sein. Und wir haben auch eine Vermutung, worum es im nächsten Spiel geht: Schiffe und Schiffskämpfe, Figuren aus einer reichen Mythologie, eine große, abwechslungsreiche Welt? Ich lege mich heute fest und ihr könnt es in zwei Jahren nachlesen: Die Wikinger werden kommen. Denn das Gameplay von Odyssey schreit nach dem 8. oder 9. Jahrhundert, als Nordmänner in ihren Langschiffe Klöster, Dörfer und Städte auf den Britischen Inseln und dem europäischen Festland plünderten.

Wir geben Assassin’s Creed Odyssey 39 von 41 Pfeilen, 5 von 6 legendären Rüstungsteilen und einen Minotaurus obendrauf samt 17 von 19 Opfergaben.