Euro-Illusion statt Euro-Vision: Deutschland feiert eigene ESCs

Kann Deutschland Eurovision Song Contest in Eigenregie? Sowohl ARD als auch Stefan Raab bei ProSieben haben es nach der coronabedingten ESC-Absage versucht.
Max Mutzke Astronaut Free ESC
Foto: Willi Weber/ProSieben/dpa
Foto: Willi Weber/ProSieben/dpa

Kann Deutschland Eurovision Song Contest in Eigenregie? Sowohl ARD als auch Stefan Raab bei ProSieben haben es nach der coronabedingten ESC-Absage versucht. Am Ende wird es allerdings eine recht deutsche Angelegenheit – und Helge Schneider singt dabei von Kartoffeln.

Es gibt einen Moment an diesem Abend, da berühren sich die beiden Welten. In der ARD läuft die internationale ESC-Ersatzshow aus den Niederlanden – und dort sieht man die Niederländerin Ilse DeLange zusammen mit dem deutschen Sänger Michael Schulte den deutschen Grand-Prix-Siegerhit von 1982, „Ein bisschen Frieden“, trällern.

Das Erstaunliche daran: Nur einen Knopf weiter auf der Fernbedienung fiebert eben jene Ilse DeLange auf ProSieben um den Sieg bei Stefan Raabs „Free European Song Contest“. Die doppelte Ilse, wie kann das sein?

Der eine Auftritt ist live, der andere aufgezeichnet, das ist die Erklärung. Aber beides zusammen ist – zumindest unter maßgeblicher deutscher Beteiligung – einer der wenigen echten europäischen Momente des Abends: Es wird eine Grenze überwunden. Und sei es nur die Grenze zwischen zwei Sendern, die beide versuchen, den Deutschen das ESC-Gefühl wiederzugeben, das ihnen durch die Corona-Absage des echten Eurovision Song Contest in Rotterdam genommen wurde.

Litauen gewinnt in der ARD und ist „Sieger der Herzen“

Zu den nackten Fakten: Deutschland hat am Wochenende zwei Gewinner eines europäisch ausgerichteten Gesangswettbewerbs gekürt. In der ARD gewinnt am Samstag die Band The Roop für Litauen die Show „Eurovision Song Contest 2020 – das deutsche Finale“ und darf sich nun als deutscher „Sieger der Herzen“ bezeichnen.

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Wenig später wird bei ProSieben der Sänger Nico Santos und mit ihm Spanien die Trophäe des ersten „FreeESC“ überreicht, den sich Altmeister Raab ausgedacht hat.

Beide ESC-Ersatzshows werden dabei zu einer recht deutschen Angelegenheit. In der ARD mutiert Barbara Schöneberger in der leeren Hamburger Elbphilharmonie zur Alleinunterhalterin – das allerdings gekonnt. Zu ihrem eigenen, extrovertierten Kleid sagt sie: „Der ESC lebt! Das freut mich besonders, denn wo sonst hätte ich diesen Fummel noch tragen können?“

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Zehn echte nominierte ESC-Teilnehmer 2020 gehen ins Rennen, nicht alle singen aber live im Konzerthaus. Etwas irritierend ist vor allem – auch wenn es nicht anders zu erwarten war –, dass nach den aufgedrehten Beiträgen kein euphorischer Applaus aufbrandet. Die Künstler verharren stattdessen sekundenlang in absoluter Stille in ihrer Schlusspose. Selbst Song-Contest-Dauerkommentator Peter Urban ist nur gelegentlich zu hören. Schwierig für das ESC-Feeling.

Der deutsche Starter Ben Dolic durfte in der Elbphilharmonie als elfter Starter ebenfalls auftreten, für ihn konnte aber nicht abgestimmt werden. Dolic war mit seinem Auftritt aber zufrieden, „war sehr gut“, sagte der aus Slowenien stammende Sänger.

Bei ProSieben geht es derweil durchaus krachender zu, auch weil man die Teilnehmer – wohlgemerkt als Deutscher – besser kennt. Zum Beispiel Sängerin Sarah Lombardi für Italien oder Schlagerstar Vanessa Mai für Kroatien. Moderator Steven Gätjen wählt sogar die große europäische Geste: „Welcome Europe!“ Dann nimmt er neben einer Plexiglas-Wand Aufstellung, die ihn coronakorrekt von seiner Co-Moderatorin Conchita Wurst trennt.

Den „FreeESC“ hat sich Stefan Raab ausgedacht, das wurde ProSieben kaum müde zu betonen. Wer früher ein bisschen Raab-Fernsehen geschaut hat, hätte diese Information aber nicht gebraucht. Der Wettbewerb atmet den Geist seiner alten Shows, angefangen mit seiner „TV total“-Band Heavytones, die auch hier musiziert. Selbst die Stimme in den Einspielfilmen ist dieselbe – nach Raabs Rückzug vom Bildschirm 2015 hatte man sich gelegentlich schon gefragt, was der Mann wohl mittlerweile macht.

Die Nostalgie geht dabei bis hin zum Humor. Im Beitrag über Bulgarien wird mehrfach gefurzt, beim Vereinigten Königreich geht es um die miese Küche der Briten, zu Deutschland gibt es einen Witz über die Kanzlerin „Herr Dr. Merkel“. Insgesamt ein eher deutscher Blick auf Europa, auch kalauertechnisch.

Max Mutzke als Astronaut

Die Punktevergabe endet mit einer Schalte zur Terrasse von Heidi Klum in Los Angeles, und ist insgesamt ein wenig undurchsichtig. Nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz entscheidet ein Zuschauer-Voting, dabei gewinnt kurioserweise das sogenannte Gastland „Der Mond“, das von Sänger Max Mutzke in Astronauten-Verkleidung vertreten wird. In den anderen Ländern vergeben zum Teil Verwandte der Teilnehmer subjektive Wertungen.

Und doch bleibt von der Show am Ende mehr hängen als nur der Versuch, den ESC im Raab’schen Sinne nachzuahmen. Es ist der zuvor geheim gehaltene deutsche Beitrag – präsentiert von Komiker Helge Schneider.

Er heißt „Forever at home“ und besingt das Leben in der Corona-Krise: „Für immer, forever at home, forever alone, für immer im Haus“, singt Schneider. „Der Markt hat auf, ich bleib‘ zu Haus, lass mir Kartoffeln schicken. Ach, wie gemütlich es bei mir ist. Doch lässt sich keine blicken.“

Kartoffeln. Darauf können sich selbst im gespaltenen ESC-Land Deutschland wohl alle einigen.

dpa