Der simulierte Mensch will echte Freiheit: „Detroit: Become Human“ im Test für PlayStation 4

David Cage hat wieder zugeschlagen: "Detroit: Become Human" ist sein nächster Versuch eines Spiels, das eigentlich ein Spielfilm sein will.
Foto: SIE
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David Cage hat wieder zugeschlagen: „Detroit: Become Human“ ist sein nächster Versuch eines Spiels, das eigentlich ein Spielfilm sein will. Und dieses Mal ist es ihm tatsächlich gelungen.

Hank stellt mich zur Rede. Der verbitterte Polizist, der Jack Daniels und Jim Beam mehr traut als mir – dem Ermittler-Androiden -, will wissen, warum ich geschossen habe. Drei mögliche Antworten stehen mir zur Verfügung. Und eine vierte Option, die ich durch Entscheidungen und Entdeckungen in vorherigen Kapiteln freigeschaltet habe.

Allerdings sind die Auswahlmöglichkeiten keine genauen Dialog-Beschreibungen, sondern nur Stichworte oder Verhaltensweisen. Also in etwa so wie ich es aus „Mass Effect“ kenne. Wähle ich nun etwas, dass Hank hören will? Zuvor schon hat er mir bei einer ähnlichen Entscheidung vorgeworfen, bei mir wäre offenbar auch ein falsch-freundliches „Arschkriecher-Programm“ installiert. Darum sage ich lieber das, was ich sagen will. Doch was will ich sagen? Wie definiere ich den Ermittler-Androiden Connor? Und wohin wird meine Antwort mich führen?

Diese Gedanken rasen durch meinen Kopf, während ein Balken langsam kleiner wird. Die Zeit wird knapp. Ich muss mich entscheiden. Und ich reagiere aggressiv. Ich schreie, dass „ich es nicht weiß“. Meine Software wird zunehmend instabil, und ich bin auf den besten Weg ein „Abweichler“ zu werden: ein Roboter, der die programmierten Ketten zerbricht und frei sein will. Damit werde ich als Ermittler-Androide Connor aber immer mehr zu dem, was Hank und ich eigentlich aufspüren sollen.

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Auf solche Situation trifft man häufig in „Detroit: Become Human“. Die Geschichte spielt 20 Jahre in der Zukunft, die eine Spur zu futuristisch scheint. Und alles beginnt mit Connor, dem Ermittler-Androiden. Er soll den Mord an einer Familie aufklären, der von einem gestörten Roboter verübt worden ist. Zunächst nur eine Anomalie, die sich aber ausbreitet. Auf mehrere Androiden, die 2038 so häufig sind wie heutzutage iPhones. Die menschenähnlichen Roboter helfen im Haushalt, übernehmen Pflegedienste, erledigen Schwerstarbeiten oder unterstützen das Militär. Stets gehorsam und freundlich. Darauf programmiert, ihren menschlichen Meistern zu dienen. Bis sich die ersten Maschinen gegen ihre konstruiertes Schicksal auflehnen – und frei sein wollen.

Die Qual der Wahl

Die Story selbst wird in etwa zehn bis 20 Minuten langen Kapiteln erzählt, in denen ich die Wahl habe, wie ich vorgehe, was ich tue und was ich entdecke. Typisch für die Cage-Werke hält sich die spielerische Herausforderung in Grenzen. Mal muss ich den linken Stick nach oben oder unten bewegen, mal muss ich mit ihm kreisförmige Bewegungen ausführen. Dann kommt wieder das Touchpad des Playstation-Controllers ins Spiel, oder ich muss rechtzeitig die richtigen Buttons oder den passenden Trigger drücken. Etwas herausfordernd wird es nur, wenn es schnell gehen muss.

Aber das Gameplay ist ohnehin nicht entscheidend, sondern meine Optionen – die über den weiteren Spielverlauf oder sogar über Leben und Tod der Charaktere entscheiden. Und die wachsen mir tatsächlich mit der Zeit ans Herz. Da ist Kara, die als Haushalts-Androide ein Mädchen vor ihrem gewaltbereiten Vater beschützen möchte – und versucht, sich mit ihr durch die Welt zu schlagen. Und das Spiel macht recht schnell deutlich, dass die eher naive Kara oft ein besseres und liebevolleres künstliches Wesen ist als die geborenen Menschen.

Markus dagegen geht in seiner Aufgabe auf, sich um den an den Rollstuhl gefesselten Maler Carl Manfred zu kümmern. Der wiederum behandelt ihn wie einen Sohn und sagt ihm immer wieder, dass „niemand dir befehlen kann, wer du bist“. Natürlich nimmt das einen tragischen Verlauf, und Markus führt am Ende die Freiheitsbewegung der künstlichen Intelligenzen an.

Der Ermittler-Androide Connor versucht dagegen zunächst mit allen Mitteln, die Abweichler aufzuspüren. Er verändert sich aber im Lauf der Ereignisse und vor allem durch den Kontakt zu seinem menschlichen Partner Hank. Und gerade seine Story ist oft die spannendste. Schließlich taucht er oft an Tatorten auf, er sammelt die Spuren und versucht die Vorgänge zu rekonstruieren. Zudem liefern sich er und Hank oft intensive Wortgefechte zwischen Sarkasmus, Zynismus, blankem Hass und langsam wachsender Freundschaft.

Exzellente Schauspieler, bewegende Story, simples Gameplay

Aber „Detroit: Become Human“ lebt nicht nur von der spannenden Story und den Dialogen, die auch in der deutschen Fassung sehr gut vertont sind – sondern auch von den exzellenten Schauspielern wie Clancy Brown (Highlander) als Hank, Lance Henriksen (Aliens) als Carl Manfred oder der Grey’s-Anatomy-Star und Bürgerrechts-Aktivist Jesse Williams als Markus.

Manchmal habe ich mich wie bei einer Netflix-Serie gefühlt, deren Verlauf indes ich bestimme. David Cage und seine Firma Quantic Dream haben endlich ein überzeugendes interaktives Werk geschaffen. Die Spiele zuvor waren eher Achtungserfolge allerdings mit wirrer Story (Fahrenheit), vorhersehbaren Plots (Heavy Rain) oder kaum nachvollziehbaren Zeitsprüngen (Beyond: Two Souls), die erzwungen originell wirkten. Wirklich überzeugen oder fesseln konnten sie mich nicht. Das ist bei „Detroit: Become Human“ anders.

Die vielen Optionen machen die Geschichte tatsächlich zu meiner Geschichte. Und wer daran zweifelt, dem wird nach jedem Kapitel gezeigt, wie man sich entschieden oder gehandelt hat, was andere Spieler im Vergleich gemacht haben – und wie viele Verzweigungen und Optionen es noch gegeben hätte. Es sind sehr, sehr viele. Mein Handeln bestimmt dabei auch, wie viel Zeit ich mit „Detroit: Become Human“ verbringe. Bis zu „meinem“ Ende habe ich mehr als 16 Stunden benötigt. Aber es geht auch kürzer, falls einer der Charaktere sterben sollte – aufgrund meiner Entscheidungen.

Und das möchte ich vermeiden, weil mich die Charaktere nicht kalt lassen. Wenn Kara und das kleine Mädchen Alice eine gefährliche Situation überleben, fühle ich mich erleichtert. Wenn Androiden durch die Straße marschieren und „Freiheit“ rufen, bin ich zutiefst ergriffen.

Und wenn sie ein Graffiti hinterlassen mit den Worten „Ich habe einen Traum“, dann werde ich an Martin Luther King un die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner der 1960er erinnert. Das ist Absicht. Die Androiden werden wie drittklassige Wesen behandelt, die als willige Sklaven den Launen der Menschen ausgesetzt sind. Dass sie dann die Worte von Martin Luther King aufgreifen, passt ins Bild. Die Geschichte wiederholt sich, und wir haben nichts aus ihr gelernt. Zumal die Welt in Detroit vielen Kleinigkeiten auch zeigt, wohin der Einsatz von Androiden führen kann: Massenarbeitslosigkeit oder die Zerstörung von zwischenmenschlicher Beziehungen durch Erotik-Roboter.

Wie menschlich sind künstliche Intelligenzen?

Das Spiel lässt mich nachdenklich zurück. Wie echt sind Gefühle und der Drang nach Freiheit, wenn sie nur das Ergebnis eines Programmcodes sind? Wann beginnt das Recht auf Selbstbestimmung einer künstlichen Intelligenz? Und wenn die sich oft anständiger verhält als eine natürliche Intelligenz, was sagt das über uns aus? Wie sehr werden Androiden das Gesellschaftsgefüge auf den Kopf stellen? Noch befindet sich die Entwicklung künstlicher Intelligenz im Anfangsstadium, aber was wird in 20 Jahren sein?

Am Ende des Spiels fragt der weibliche Androide aus dem Startmenü mich überraschend etwas, das meine Erfahrung aus „Detroit: Become Human“ auf die Probe stellt. David Cage will eben mehr als nur einen Zeitvertreib schaffen. Und dazu gehört dieser gelungene Twist zum Schluss, der zeigt, wozu Computerspiele in der Lage sein können.

Aber noch ist Quantic Dream nicht alles perfekt gelungen. Manche Nebenfigur oder mancher „Statist“ in Detroit fällt durch mangelnde Details auf. Erst recht, weil die Grafik ansonsten auf der PS4 Pro grandios aussieht. Und nicht immer erreiche ich mit meinen Entscheidungen das, was ich eigentlich wollte – weil ich an einigen Stellen in der Luft hänge und ich dann einfach etwas wähle. Und am Ende gibt es nicht für alles eine Erklärung, was aber auch wieder an meiner Spielweise liegen kann.

Wichtiger ist aber: Das Spiel hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und Connor, Kara und Markus werde ich so schnell nicht vergessen.

Wertung: Wir geben „Detroit: Become Human“ 88 von 102 Biokomponenten, 375 von 437 Graffitis, 24 von 27 Litern „Blaues Blut“ und 789 von 924 Schaltkreisen.