Welches Volkslied stimmten Abgeordnete an, nachdem der Brexit beschlossen war?

Dreieinhalb Jahre Dauergezerre gehen zu Ende: Jetzt ist tatsächlich Brexit. Aber das nächste Drama und Unsicherheit sindschon absehbar.
Brexit Fahne Großbritannien
Foto: Francisco Seco/dpa
Foto: Francisco Seco/dpa

Dreieinhalb Jahre Dauergezerre gehen zu Ende: Jetzt ist tatsächlich Brexit. Aber das nächste Drama ist schon absehbar. Und Unsicherheit für Millionen Europäer.

Viele Abgeordnete sangen das schottische Abschiedslied „Auld Lang Syne“ – manchen kamen gar die Tränen. Da lagen sich Europaabgeordnete in den Armen und sangen „Should auld acquaintance be forgot“ – „Nehmt Abschied, Brüder“. Einige trugen blau-rote Schals mit Europafahne, der britischen Flagge Union Jack und der Aufschrift: „Für immer zusammen“. Bei einigen flossen Tränen. Andere machten sich Mut mit der Formel, es heiße nun „Auf Wiedersehen“ und nicht „Lebe Wohl“, eine Tür bleibe immer offen für Großbritannien. Doch allen war klar: Es geht etwas zu Ende, und was kommt, weiß niemand ganz genau.

47 Jahre und einen Monat war Großbritannien nach dem Beitritt 1973 Mitglied in der Europäischen Union und deren Vorläufer. Jetzt schwimmt sich das Vereinigte Königreich frei, kappt die Bande mit Brüssel. Am Freitagabend um 24 Uhr Brüsseler Zeit ist Brexit.

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Die letzte ernsthafte Hürde räumte am Mittwoch das Europaparlament aus, als es den Austrittsvertrag ratifizierte. Das britische Parlament hatte zuvor schon einen Haken dran gemacht, mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum 2016. Für die meisten Europäer dürfte der Brexit vorerst recht abstrakt bleiben. Doch Ende des Jahres wird es spannend.

Was ändert sich am 1. Februar im Alltag?

Nichts, sagt die EU-Kommission. Denn unmittelbar nach dem Austritt beginnt eine Übergangsphase bis 31. Dezember. „Bis zu diesem Zeitpunkt ergeben sich für die Bürgerinnen und Bürger, Verbraucher, Unternehmen, Investoren, Studenten und Forscher in der EU und im Vereinigten Königreich keine Änderungen“, versichert die Brüsseler Behörde. Man kann reisen wie bisher, ohne Roaming-Gebühren beim Handy. Man kann ohne Sorge Waren von britischen Webseiten bestellen. Oder wie bisher mit EU-Stipendien in Großbritannien studieren.

Was ändert sich für Großbritannien?

Übergangsphase heißt: Großbritannien ist zwar raus und offiziell Drittstaat, hält sich aber bis Jahresende an alle EU-Regeln und zahlt in den EU-Haushalt ein. Alle EU-Programme laufen in Großbritannien weiter. Nur darf das Land in Brüssel nicht mehr mitreden. Es hat keine Vertretung mehr in der EU-Kommission, bei Ministerräten, bei EU-Gipfeln oder im EU-Parlament. Dort verlieren am 1. Februar 73 britische Abgeordnete ihr Mandat. 27 freiwerdende Sitze gehen an Nachrücker aus 14 EU-Staaten, die bisher gemessen an der Bevölkerung zu schwach vertreten waren. 46 Sitze werden in einer Reserve geparkt.

Wie stark trifft der Brexit die EU?

Die Europäische Union verliert eine Atommacht und ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Von bisher rund 512 Millionen Einwohnern der EU bleiben gut 446 Millionen übrig. Das Bruttoinlandsprodukt der EU von 15,3 Billionen Euro 2018 schrumpft um rund 15 Prozent. Weil Großbritannien einer der wichtigsten Beitragszahler war, fehlen in den Jahren ab 2021 rechnerisch bis zu 14 Milliarden Euro pro Jahr im EU-Haushalt. Auch deutsche Steuerzahler sollen einen Teil der Lücke stopfen.

Wer muss jetzt aufpassen?

Ein tiefer Einschnitt ist der Brexit vor allem für die 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und die 1,2 Millionen Briten in der EU. Der Austrittsvertrag sichert ihnen zu, dass sie und ihre engsten Angehörigen weiter leben können wie bisher. Doch müssen sich EU-Bürger in Großbritannien bis Ende des Jahres registrieren lassen, sonst könnten sie das Aufenthaltsrecht doch verlieren. Auch einige EU-Staaten haben Registrierungspflichten. Bis zum Jahresende könnte man übrigens noch nach EU-Regeln nach Großbritannien ziehen, denn das Land gehört in der Übergangsfrist zum Binnenmarkt und muss Freizügigkeit akzeptieren.

Wer muss sich Sorgen machen?

Für die Zeit nach der Übergangsphase ist nur wenig geregelt. Wird es künftig Zölle geben? Wie intensiv werden Waren an den Grenzen kontrolliert? Wer darf wo in der Nordsee wie viel Fisch fangen? Ändert sich künftig doch etwas beim Reisen? Dürfen EU-Bürger weiter in Großbritannien arbeiten? Wie geht es weiter mit dem Studentenaustausch? Darf die Polizei auch künftig Verbrecherdaten austauschen? All das und noch viel mehr ist ungeklärt und soll nun in Windeseile vor dem Jahresende vertraglich festgezurrt werden. „Wir haben sehr wenig Zeit, die ganzen Verhandlungen fertig zu bekommen“, warnt Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel. „Elf Monate sind einfach ein unmöglicher Zeitplan.“ Nicht nur der Bundesverband der Deutschen Industrie ist deshalb unruhig. Ohne Partnerschaftsvertrag droht doch noch der Sturz ins Ungewisse.

Was ist schon vertraglich geregelt?

Ganz so wie der lange gefürchtete Chaos-Brexit ohne Austrittsvertrag wäre es aber nicht, denn dieser enthält schon einige auf Dauer angelegte Klauseln. Die wichtigste ist die Vereinbarung für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. So ist bereits festgelegt, dass in Nordirland in jedem Fall für die nächsten Jahre einige Regeln des EU-Binnenmarkts und besondere Zollregeln gelten. Im Übrigen klärt der mehr als 500 Seiten starke Vertrag, wie viel Großbritannien noch für offene Rechnungen an die EU zahlen muss. Es gibt diverse Übergangsregeln. Und abgemacht ist auch: Parmaschinken, bayerisches Bier und andere regionale Esswaren bleiben in Großbritannien geschützt – ebenso wie „walisisches Lamm“ und vieles mehr in der EU.

Was muss jetzt als Erstes geklärt werden?

Oberste Priorität in den Verhandlungen der nächsten Monate ist für beide Seiten ein Handelsabkommen. Das Motto heißt: keine Zölle, keine Kontingente, kein Dumping. Die EU will den britischen Zugang zum Binnenmarkt nur in dem Maß gewähren, in dem Großbritannien auch künftig gemeinsame Standards einhält, seien es nun Umwelt-, Sozial-, Steuer- oder Warenstandards. Die britische Regierung will jedoch möglichst ihre eigenen Regeln setzen – aus ihrer Sicht ist das ja der Hauptvorteil des Brexits. In dieser Gemengelage hält die EU-Seite bis Jahresende bestenfalls ein Rumpf- oder Rahmenabkommen für möglich. Eine verlängerte Übergangsfrist lehnt der britische Premierminister Boris Johnson bisher ab.

Wie geht es ab 1. Februar weiter?

Am 3. Februar will die EU-Kommission einen Vorschlag zur Verhandlungslinie machen, die die 27 bleibenden EU-Staaten zunächst beraten und dann am 25. Februar billigen wollen. Kurz darauf können die Verhandlungen starten. Im Juni will die EU Zwischenbilanz ziehen. Vor dem 1. Juli müsste auch über die etwaige Verlängerung der Übergangsfrist entschieden werden. Das Abkommen muss aus EU-Sicht spätestens im November stehen, damit Zeit zur Ratifizierung bleibt. EU-Diplomaten fürchten bereits ein neues Brexit-Drama zum Jahresende.

mit dpa-Material